Charme auf sächsisch
Von Manfred Hönel
Was dem Laien wie eine Offenbarung des Eiskunstlaufs erscheinen mag, ist für die Augen einer kritischen Lehrerin noch mit manch kleinem Mangel behaftet. Deshalb wird in der Eishalle im Karl-Marx-Städter Küchwald von Trainerin Jutta Müller und Ballettmeister Rudi Suchy möglichst jedes Fingerspreizen Tag für Tag immer und immer wieder geübt. »Wer heute bei internationalen Meisterschaften auf das Siegertreppchen will, muß jede Bewegung perfekt beherrschen und in jeder Sekunde seines Wettkampfes konzentriert sein «, betont die Trainerin. Katarina Witt will sich in Sarajevo zum ersten Mal in ihrer Laufbahn möglichst mit dem Geschmeide einer olympischen Medaille schmücken.
Die verhängnisvolle Schlinge
Wie schwer solche Wünsche zu erfüllen sind, spürte Katarina Witt bei der Weltmeisterschaft im letzten Winter in Helsinki. Die sächsische Schönheit schnitt ihre Pflichtbogen sicher und gekonnt ins Eis. Die Preisrichter zeigten ihr dafür hohe Noten. Doch dann zum Abschluß war die Schlinge an der Reihe. Den Bruchteil einer Sekunde vielleicht fehlte bei der KarlMarx-Städter Schülerin die Konzentration. Da war es passiert. Die Deckung stimmte nicht, die Noten fielen entsprechend aus, und am Ende blieb statt des erhofften vierten nur der achte Pflichtrang. Zu wenig, um noch nach dem Titel greifen zu können, wie sich später herausstellte. Trotz des mit Abstand besten Vortrages im Kurzprogramm und einer vielbewunderten Kür blieb ihr der Weg zum Siegerpodest versperrt. Sie hatte sich in der Schlinge verfangen. »Das soll mir in diesem Winter nicht passieren«, hofft Katarina Witt. Deshalb wiederholt sie immer wieder mit bewundernswerter Geduld jeden Pflichtbogen und jeden Schritt von Kurzprogramm und Kür. Wenn die Töne einmal zu einem Geräuschemischmasch zu verschwimmen drohen, weil sie die Melodien schon zu oft gehört hat, wird eine kleine Pause eingelegt, um dann sofort wieder von neuem zu beginnen. »Der Alltag eines Eiskunstläufers ist hart, ich wollte, jeder könnte sehen, wie sich die Mädchen mühen müssen, ehe so eine Kür sitzt«, wünscht sich Trainerin Jutta Müller.
»Zum Mädchen gehört ein Rock!«?
Die Schöpferkraft und Ideenfindung im KarlMarx-Städter Küchwald geht dabei weit über das reine Eis oder Athletiktraining hinaus. Bisweilen fühlt sich der Besucher gar in ein Filmstudio versetzt. Einem Regisseur gleich gestaltet die Trainerin alle Auftritte ihres Schützlings durch. Zuerst wird die Musik gesucht, danach folgen Kostüm- und Frisurwahl. Die Fachwelt staunte im vorigen Winter nicht schlecht, als Kati bei der Europameisterschaft auf dem Eis der Dortmunder Westfalenhalle als junger Mozart erschien. »Wir wollten bei der Kurzkür die Ausdruckskraft durch das Kostüm unterstreichen, weil bei einem Zweiminutenprogramm nicht genug Zeit zum ausführlichen Gestalten der Musik bleibt«, erklärte später Katarina etwas enttäuscht. Die internationalen Preisrichter stimmten mit der Karl Marx-Städter Auffassung nämlich nicht überein. Die Kniebundhosen im Stile der Höflinge des vorigen Jahrhunderts fanden sie unpassend. Zu den Mädchen gehört ein Rock, hieß es. Ein alter Zopf mit überholten Ansichten, der da geflochten wurde. Aber was half es. Es mußte umgedacht werden. In diesen Wochen kommt uns Katarina deshalb im Puszta-Look zu ungarischer Folklore beim Kurzprogramm. Bei den Gershwin-Melodien der Kür begegnet uns die DDR-Meisterin als elegante Dame. Doch all die Kostüme würden nur wie Operettenpomp wirken, wenn Katarina Witt nicht auch mit Tanzkunst und hohen Eis-Sprüngen überzeugen könnte. Vor allem auf die vier verschiedenen Dreifachen: Salchow, Toeloop, getippter Salchow und Rittberger legt die Trainerin besonderen Wert. Jutta Müller schwankt da allerdings noch etwas, welchem Trend sich die Preisrichter in Sarajevo anschließen werden. »Es heißt zwar immer wieder, der Ausdruckskraft solle mehr Bedeutung zufallen, zumal Widerholungen von Dreifachsprüngen bei den Einzelläufern mit Punktabzug belegt werden, aber in der Praxis ist es dann doch so, daß sich Preisrichter von der Anzahl an Dreifachen leiten lassen.« Jutta Müller denkt so, und Katarina Witt bringt alles auf die einfache: aber bestimmt richtige Formel: »Wenn ich gewinnen will, muß ich neben Ausdruckskraft auch die Schwierigkeiten beherrschen.«
Ihre Figur ist kein Geschenk
Um alles zu lernen, was von ihr Sport und Schule erfordern,
gilt bei Kati das Wort: »Morgenstund hat Gold im Mund.« Pünktlich
um 5.30 Uhr unterbricht das schrille Klingeln des Weckers den Schlaf der 18jährigen.
Ihr Tag beginnt dann pünktlich um 7.00 Uhr. »Manchmal habe ich erst
Schule und gehe dann zum Training, dann ist es wieder umgekehrt.« Die
18jährige Schülerin der 12. Klasse strebt im Sport und in der Schule
genau ent gegengesetzte Noten an. Sollen es auf dem Eis möglichst alles
Sechsen sein, dominieren in der Schule die Einsen. Mit den sowjetischen und
englischen Eiskunstläuferinnen kann sich das Mädchen aus unserer Republik
in deren Landessprache schon ganz gut verständigen. Gegenüber den
meisten Konkurrentinnen besitzt das DDR-Mädchen nicht nur Sprachvorteile.
Sie gilt von ihrer äußeren Erscheinung her schlichtweg als Schönheit
auf dem Eis. Ihre tadellose Figur verdankt sie aber nicht nur der täglichen
Bewegung auf Kufen. »Ich muß mich mit dem Essen einschränken.
Pralinen und Kuchen stehen nur ganz selten auf dem Speisezettel.«
Katarina Witt beginnt den Tag mit einer Scheibe Schwarzbrot, Wurst, Tee und
einem Ei. Zum Mittagessen gibt es meist Fleisch und Gemüse, am Nachmittag
greift Kati zum Apfel, wenn der Magen rumort. Am Abend entschließt sie
sich meist für belegtes Knäckebrot. Nach dem Abendbrot zieht sie sich
dann meist in ihr Zimmer zurück, um zu lernen, Musik zu hören oder
neben der Zeitung auch noch ein bißchen in Gegenwartsliteratur oder Abenteuerromanen
zu schmökern.
Goldene Hoffnungen
Das Eiskunstlaufen, der Sport überhaupt, spielt bei den Witts eine große Rolle, zumal Bruder Axel als Fußballer in KarlMarx-Stadt besonders für die Kicker in den himmelblauen Trikots des FCK schwärmt. Doch wenn die Eiszeit das Leben der Witts bestimmt, drückt natürlich auch Bruder Axel gemeinsam mit den Eltern für die kleine Schwester beide Daumen. In diesem 13. Eislaufwinter der Katarina Witt hofft die Familie auf möglichst goldene Eiszeiten. Ihrer Tochter war dabei einst durchaus keine strahlende Eislaufzukunft vorgezeichnet. Der Student der Landwirtschaftswissenschaften Heinz Witt lernte als Mitglied des Ernst-HermannMeyer-Ensembles der Berliner HumboldtUniversität die Physiotherapeutin der dortigen Tanzgruppe kennen. Die Tänzerin wurde zu Beginn der 60er Jahre Frau Witt. Zunächst wohnten die Witts in Staaken, wo auch Katarina das Licht der Welt erblickte. Über Bernburg landete die Familie Witt schließlich, den beruflichen Aufgaben folgend, in Karl-MarxStadt. In der sächsischen Industriemetropole zog es dann die fünfjährige Kati 1970 aufs Eis des Sportklubs Karl-MarxStadt. Im heute 69jährigen Heinz Weise fand Katarina Witt vor 13 Jahren jenen Eislauf-Lehrer, der sie behutsam an ihren Sport heranführte, ehe sie sich 1975 bei der verdienstvollen Jutta Müller auf den Weg in die Weltelite des Sports der Kufen und Kurven begab.